Schulsystem in Hanoi

15.Oktober – 19.November 2018 - Hanoi, Vietnam

«Hellooo, teacher! How are you? Where are you from? Whats your name?», klingt es von interessierten Knirpsen, die an den ausländischen Lehrpersonen vorbei laufen.

Wenn man auf dem Korridor läuft und durch die Fenster in die winzigen, sterilen Schulzimmer linst, zählt man bis zu 60 Kinder in einem Raum und die Lehrperson unterrichtet mit Hilfe von einem goldenen Mikrophon oder einem Headset, damit auch alle dem Thema folgen können. Wenn die Konzentration der Schüler nachlässt, knallt das hölzerne, 50 cm Lineal (in vielen Fällen schon zersplittert und mit Tesafilm stabilisiert) auf das Lehrerpult, dass die Kinder in den vordersten Bänken einen Hörschaden haben müssen. Oft werden im Englischunterricht Sätze im Chor nachgesprochen oder Bewegungsspiele im Kollektiv ausgeführt, welche die Kinder zum Lernen aufmuntern sollen. Weitere Methoden als Frontalunterricht und Einzelarbeit sieht man selten.

Vor allem die Fachlehrpersonen hetzen von Stunde zu Stunde und können keine Sekunde verschnaufen. Die Aufmerksamkeit der Schüler und Lehrpersonen ist teilweise ungenügend, dass Kinder die ganze Stunde leise vor sich hin weinen, schlafen, mit Flugzeugen spielen (einmal sogar den Spielzeughelikopter herumfliegen lassen!), ohne Material die ganze Stunde absitzen, in einem Buch lesen oder einfach chillen. Die Lehrpersonen kümmert der pädagogische Inhalt wenig und es ist unmöglich, alle 60 Kindern zu betreuen und zu unterstützen. Kein Wunder, dass viele ausländische oder besser betuchte Eltern ihre Kinder auf eine Privatschule schicken, wo sie in kleinen Klassen (25 Schüler/innen) viel mehr profitieren. Wer sich an den «Multi-Kulti»-Unterricht der Schweiz gewöhnt hat, wird schnell merken, dass an öffentlichen Schulen nahezu 100% vietnamesische Kinder sind.

Oft flüchten Schüler während dem Unterricht auf die Toilette, wo sie gemeinsam schwatzen und ihr Geschäft verrichten, oder zum Wasserspender, der in jedem Zimmer steht. Immer wieder fallen Schüler auf, die während der Stunde aufstehen und herumlaufen, oder sogar an die Wandtafel zur Lehrperson gehen, ihr über die Schulter schauen oder in einer gewissen Lautstärke mit anderen Schülern schwatzen, zeichnen oder spielen. Auf Anfragen, wieso die Lehrperson nicht einschreite, kommt als Antwort: «He has a mental thing».

Unglaublich ist, dass die Fachlehrpersonen keine Schulmaterialien besitzen und immer ein Heft der Schüler ausleihen müssen. Im Klassenzimmer ist es sehr ungemütlich, denn man hört unentwegt das Surren der 8 Ventilatoren, das Gequäke der Lehrperson auf Vietnamesisch oder gebrochenem Englisch durch das Mikrophon verstärkt oder das Gemurmel oder Geschwätz der 60 Leidensgenossen. Wie sollte man sich da konzentrieren?

Als ewiger, unsterblicher Aufpasser prangt zuvorderst über der Tafel in jedem Zimmer ein Gemälde von Ho-Chi-Minh, auch «Onkel Ho» oder «Grossvater Ho» genannt. Wie von einem kommunistischen Staat zu erwarten ist, darf ein gewisser Personenkult nicht fehlen.

Sehr auffallend ist, dass die Handschrift der Kinder fast ausnahmslos sauber und wunderschön ist. Dies wird in den ersten Jahren strikt geübt und in jeder Stunde wird der Lerninhalt im Heft festgehalten, damit die Eltern zu Hause mitverfolgen können, was man in der Schule lernt.

Das Mittagessen wird auch in der Schule serviert. Mitten im Unterricht öffnet sich die Tür und Köchinnen tragen riesige, silbrige Töpfe mit Reis, Fleisch, Gemüse und Suppe ins Klassenzimmer. Die Mahlzeit wird von den Lehrpersonen am Mittag an die hungrige Meute verfüttert. Unglaublich, dass der Schultag von Morgen um 8 Uhr bis am Nachmittag um 17.05 Uhr gemeistert wird.

Die Lehrpersonen können sich nicht in einem Lehrerzimmer erholen, sondern müssen in der Bibliothek an einem auseinanderfallenden Tisch weilen und 20 min Ruhe am Morgen in der 10 Uhr-Pause geniessen. Da ist es verständlich, wenn die Erwachsenen in ihrer Pause in ihre Handy starren und unmotiviert an Sushi, Gemüsebällchen oder anderem Snack knabbern.

Im Vietnamesischen Schulsystem wird das Kind als Individuum leider wenig unterstützt, denn die Lehrperson ist mit der Klassengrösse und den fehlenden Mitteln nicht im Stande, gezielt zu fordern und zu fördern. In jeder Klasse beobachtet man Kinder, welche den ganzen Tag ohne Schulmaterial in der Klasse sitzen und in ihrer Traumwelt weilen.

Familien, welche betucht sind, schicken ihre Sprösslinge an eine überteuerte Privatschule. Dort kann eine Lehrperson in einer Klasse 20 Schüler/innen betreuen und jedes Kind mit eigenem Lehrplan unterstützen.

Aufgrund dieser Umstände, fallen einem aber auch diejenigen Schüler auf, die Eigeninitiative und Motivation zeigen. Man könnte meinen, dass es nur Faulenzer und schwache Leistungen gibt, aber besonders in den vorderen Reihen sitzen doch einige, die tadellos mitmachen – trotz des allgegenwärtigen Lärms – immer wieder aufstrecken und ein ehrliches Interesse am Lernen und Freude an der Schule zeigen. Diese erhalten vermutlich zu Hause auch Unterstützung oder haben sich ein persönliches Ziel gesetzt.

Auf dem Schulhof wird man oft mit einem «Hello Teacher! You handsome!» begrüsst und oft wird man (weil man hier ja der Ausländer ist) umschwärmt und zu High fives und Armdrücken eingeladen. Viel Zuneigung wird gezeigt und man spürt eine Dankbarkeit für die Präsenz im Unterricht.

Bestrafung gibt es an der Schule, die besucht wurde nicht wirklich. Es wird nicht geschlagen, es gibt kein Nachsitzen oder Strafaufgaben. Allerhöchstens wird ein Spielzeug oder Buch kurz auf das Lehrerpult gelegt oder man muss in Ausnahmezuständen zur Türe hinstehen. Laut einer Lehrperson müssen Eltern, deren Kind sich stark daneben benimmt, in die Schule kommen und in den Unterricht sitzen, damit es sich wieder beherrscht.

Von den Lehrpersonen (hauptsächlich weiblich bis auf die Sportlehrer) wird erwartet, dass sie gut gekleidet zur Schule kommen mit einem «Business»-Outfit: Rock, Blazer, edles Oberteil. Das Klischeebild des Lehrers mit Strickpulli und Birkenstocksandalen ist in Vietnam nicht existent.

Trotz des Unterrichts, in dem viele Schüler einfach schlafen oder sich mit wichtigeren Sachen wie Comic lesen beschäftigen, werden viele Hausaufgaben erteilt und dass ein Grossteil des Wochenendes gearbeitet werden muss, ist normal. Ob die Lehrpersonen auch wirklich die Zeit und die Möglichkeiten haben diese ausreichend zu kontrollieren, konnte leider nicht erschlossen werden.

Jeden Montag müssen die Schüler mit der Uniform in die Schule kommen (freiwillig für den Rest der Woche), da die Fahne gehisst und in Reih und Glied gestanden werden muss. Wenn man den Turnunterricht beobachtet, sieht man auch, dass «Exerzieren», wie vor 60 Jahren an Schweizer Schulen, Teil des Lehrplanes ist und Buben und Mädchen marschieren lernen müssen.

Schulferien kennt man fast nicht. Freie Tage gibt es am Têt, dem asiatischen Neujahr, und am Unabhängigkeitstag. Sonst ist fast durchgehend Schule. Vietnam ist tatsächlich das Land mit den wenigsten Feiertagen (ganze acht) und die längsten Schulferien dauern von Mitte Dezember bis Anfang Januar zwischen den Trimestern (anstelle der Schulsemester).

Wenn man sich am Ende des Schultages an die wortwörtlich tausenden, grinsenden Gesichter erinnert, freut man sich trotz des neu erstandenen Tinitus auf den nächsten Schultag.